Medienpädagogisches Projekt: Life is Strange

Modell der Medienbildung


Das Modell der Medienbildung von Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki (2009) basiert auf einer strukturalen Bildungstheorie, „welche Bildungsprozesse als eine Form komplexer, selbstreflexiver Lern- und Orientierungsprozesse versteht“ (ebd., 19). Die Autoren stellen sich gegen eine Theorie, die besagt, dass Bildung entsteht, wenn sich der Mensch mit vorgeschriebenen literarischen Werken auseinandersetzt. Ihrer Meinung nach ist Bildung das Ergebnis komplexer Lern- und Orientierungsprozesse, die individuell eingeprägte Muster und Strukturen hinsichtlich neuer und komplexer Weltsichten verändern oder ersetzen.
Diese Theorie gründet auch auf ihrer Annahme, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend in eine Wissensgesellschaft verwandelt, da der „Einfluss von Wissenschaft und Technik“ (ebd., 21) immer größer wird. Mit diesen neuen Informationstechnologien wird vermehrt Wissen zur Verfügung gestellt, die das Individuum reflektieren kann und auch muss. Doch um bei dieser Fülle an neuen Informationen einen Überblick zu behalten, steht das Bildungssystem vor der Aufgabe „Unterstützung und Hilfe zur Wissensbewältigung während des gesamten Lebenslaufs zu gewähren“ (ebd.).
Damit soll eine Abgrenzung zwischen dem allgemeinen Verfügungswissen und dem bildungstheoretisch wertvollem Orientierungswissen entstehen. Die Menschen stehen vor der Aufgabe, „sich innerhalb unübersichtlicher und kontingenter gesellschaftlicher Bedingungen Orientierung zu verschaffen“ (ebd. 23), flexibel in ihren Denk- und Handlungsmustern zu sein, sich für neue Weltsichten offen zu halten und sich auf Fremdes einzulassen (vgl. ebd.).
Wendet man den Blick auf Computerspiele, ist zu erkennen, dass diese dem Spieler „eine komplexe Erfahrungsstruktur und damit bedeutungsgenerierende Freiräume [bieten], die neben der Spiellogik und dem Spielerlebnis stets auf repräsentative Aspekte verweisen“ (Wimmer 2014, 274). Sie können, nimmt man vor allem Bezug auf das vorgestellte Computerspiel Life is Strange, moralische als auch ethische Werte enthalten und präsentieren. Diese Werte sind nicht nur in ihren Aussagen sondern auch im Design, also den Strukturen des Spiels verankert und können auf verschiedene Weise Bildungsprozesse beim Spieler anregen.
Jörissen und Marotzki arbeiten für eine Analyse dieser Bildungsprozesse innerhalb der Medien vier Orientierungsdimensionen heraus: den Wissensbezug, den Handlungsbezug, den Transzendenz- und Grenzbezug, sowie den Biographiebezug.
Der Wissensbezug bezieht sich auf die Verlässlichkeit des Wissens, das innerhalb des Mediums zur Verfügung gestellt wird. Hierfür muss das Individuum ein „kritisches Sichtverhalten zu den Informationsquellen“ (Jörissen/Marotzki 2009, 24) aufbauen und deren Wichtigkeit untersuchen. Somit zielt der Wissensbezug auf die Reflexion verschiedener, medial präsentierter Wissensbestände.
Der Handlungsbezug beabsichtigt „die Reflexion von Handlungsoptionen im Kontext gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Kontexte“ (ebd., 25). Dem liegt zugrunde, dass das Individuum Verantwortung für seine Handlungen übernimmt, die gewissen Folgen oder Nebenfolgen mit sich ziehen. Hier kommt es vor allem auf die Reflexion der Adäquanz der Handlungen an.
Der Transzendenz- bzw. Grenzbezug bezweckt die Betrachtung von Grenzen, wie zum Beispiel zwischen Rationalität und Irrationalität, Vernunft und Unvernunft, oder das Eigene und das Fremde (vgl. ebd.). Er beschreibt außerdem den Umgang mit solchen Grenzen, Grenzerfahrungen und Grenzbezügen.
Die letzte Orientierungsdimension, der Biographiebezug, bezieht sich auf „das grundlegende Verständnis […] vom Menschen […][und] die Identität des Einzelnen“ (ebd., 26). Das Individuum bildet während seines Lebenslaufs eine Rangordnung von Werten, die deren Wichtigkeit beschreibt. Somit gibt die Lebenserfahrung den „Such- und Erprobungsprozess“ (ebd., 27) der Werte wieder. Diese reflektiert das Individuum, wenn sie in „vertraute[n] soziale[n] Kontexte[n] immer weniger zur Verfügung stehen“ (ebd.). Ist dies der Fall, so werden die Werte verändert oder neu gebildet.
Blickt man nun wieder auf das Computerspiel Life is Strange, erkennt man sofort den Handlungsbezug wieder. Im Verlauf des Spiels muss sich der Spieler immer wieder zwischen verschiedenen Wahlmöglichkeiten entscheiden, die die eine oder andere Auswirkung auf den Spielverlauf haben. Zum Zeitpunkt dieser Entscheidungssituation ist nicht immer deutlich erkennbar, welche Option „richtig“ ist. Auch das Zurückspulen und Testen der anderen Wahlmöglichkeit kann nicht immer Aufschluss dazu geben. Somit befindet sich der Spielende in diesem Moment in einem „moralischen Dilemmata“ (Wimmer 2014, 274). Diese liegen vor, „wenn der Handelnde gezwungen ist, egal wie er sich entscheidet, ein moralisches Prinzip zu verletzen“ (ebd., 277). Ein gutes Beispiel stellt das Gespräch zwischen dem Security-Mann David Madson und Kate Marsh dar. Der Spieler muss sich entscheiden, ob er eingreift, oder nur ein Foto von der Begegnung schießt. Entweder, er bringt Max selbst in den Fokus des unter Kontrollzwang leidenden David, oder er verletzt Max‘ Beziehung zu Kate. Die moralische Frage ist: Wer ist wichtiger? Max oder Kate? Ein „richtig“ oder „falsch“ ist nicht auszumachen.
Jeffrey Wimmer ist der Meinung, dass genau diese „Spiele und ihre vielzähligen Entscheidungssituationen einen unschätzbaren erzieherischen Wert haben können. Durch das moralische Handeln in Spielen erhält der Spieler praktische Erfahrungen mit moralisch richtigen Entscheidungen oder kann bei unmoralischen Entscheidungen sein Handeln durch die erfahrenen Konsequenzen evaluieren“ (ebd.).
Damit spricht Wimmer ebenso den Punkt an, dass die unmoralischen Aspekte in dem Spiel Life is Strange, also die Themen des Drogenkonsums und dem Stehlen einer Waffe, auch einen positiven Effekt auf die Moral der Rezipienten haben können. Damit ist nicht gemeint, dass sie selbst sofort Drogen nehmen und eine Schusswaffe haben wollen. In dem Spiel werden sie mit den Gefahren und Auswirkungen konfrontiert, die diese Themen mit sich bringen. Ihre schlechten Erfahrungen aus dem Spiel können sie somit auf ihr realweltliches Leben übertragen.
Ich möchte aber wieder die Hauptthematik meines Projektes in den Fokus nehmen: das Mobbing. Neben dem Handlungsbezug, konfrontiert das Spiel die Heranwachsenden auch mit der Biographie von Max selbst. Die Spieler erleben, was es für Max heißt, von anderen ausgeschlossen und aufgezogen zu werden, und werden damit gleichzeitig darauf sensibilisiert, dies in ihrer realen Welt selbst zu unterlassen.
Nachdem wir nun die Bildungspotenziale von Medien allgemein und in Bezug auf das Spiel Life is Strange geklärt haben, möchte ich in meinem nächsten Abschnitt auf die Begriffe der „handlungsorientierten Medienpädagogik“ und der „aktiven Medienarbeit“ eingehen, die im engen Bezug zur Theorie der Medienbildung stehen.

zurück nach oben weiter